Mitglieder der "Religionsgeschichtlichen Schule"



















Übersicht
Wilhelm Bousset
Carl Clemen
Albert Eichhorn
Hugo Greßmann
Hermann Gunkel
Heinrich Hackmann
Wilhelm Heitmüller
Karl Mirbt
Rudolf Otto
Alfred Rahlfs
Ernst Troeltsch
Heinrich Weinel
Johannes Weiß
Paul Wernle
William Wrede

Wilhelm Bousset (1865-1920)

Dt. evg. Theologe, geb. am 3.9.1865 in Lübeck. Studium in Erlangen, Leipzig und Göttingen, 1890 Privatdozent ebd., 1896 außerord. Professor für Neues Testament ebd., 1916 ordentl. Professor in Gießen. Gest. am 8.3.1920 ebd.

B. war ein Hauptvertreter der sog. "Religionsgeschichtlichen Schule" und ein maßgeblicher Erforscher des sog. "Spätjudentums" (ca. 150 v.Chr.-135 n.Chr.) in seiner Bedeutung für die Entstehung des frühen Christentums. Auch hellenistische und orientalische Einflüsse auf das Urchristentum wies er nach.

Neben einer regen, auch politischen Zwecken dienenden Vortragstätigkeit, der die "Religionsgeschichtlichen Volksbücher" (hg. von Fr. M. Schiele) ihre Entstehung verdankten, begründete B. 1898 zusammen mit W. Heitmüller die "Theologische Rundschau" und wurde zusammen mit H. Gunkel 1903 Herausgeber von "FRLANT".



Auf diesen Theologen blickten alle mit Argwohn

Wilhelm Bousset war für Kirche und Universität unbequem
(Veröffentlicht in: Evangelische Zeitung, Beilage "Mensch und Umwelt", 1.11.1992.)

"Die um Bousset erschienen mir wie eine Horde von Bilderstürmern, die alles kurz und klein schlagen wollten. Wie man in Darwins Schöpfung den Schöpfer vermißt, so vermißte ich in Boussets Bibel den Heiligen Geist. Es war ja alles Menschenwerk, noch dazu eins, wo es nach Fälschungen stank. Von Boussets Umgang aber habe auch ich profitiert."
So hat einmal ein theologisch wohl nicht gerade liberal gesinnter Pastor seine Erinnerungen an die Göttinger Studienzeit bei dem dortigen Neutestamentler Wilhelm Bousset (1865-1920) zusammengefaßt. Radikal erschienen ihm die Ansichten dieses eigenwilligen Wissenschaftlers, zu radikal wohl überhaupt für die Masse der damaligen traditionsgebundenen Theologiestudenten. Aber andererseits waren sie doch so machtvoll vorgetragen, daß sich bei allem heimlichen Groll gegen den angeblichen Bilderstürmer die Anerkennung für dessen überragende Persönlichkeit nicht verweigern ließ.
Wilhelm Boussets Situation in Göttingen, wo er fast sein gesamtes Gelehrtenleben zugebracht hat, war tatsächlich so von Widersprüchen bestimmt, wie es jene studentischen Erinnerungen andeuten. In der Fachwelt längst als der überragende Neutestamentler seiner Generation anerkannt, wurde ihm dennoch in Göttingen über Jahrzehnte die Position eines ordentlichen Professors versagt.

Trotz seines vielfältigen Engagements in der Studentenschaft, etwa beim Aufbau und der Neugestaltung der Göttinger Burschenschaft Germania, hielt sich deren Mehrzahl bis auf eine geistige Elite von ihm fern. Und die Kirche schließlich blickte mit Argwohn auf einen Theologen, der es sogar gewagt hatte, den Elfenbeinturm der Universität zu verlassen, um auch in sozialen und politischen Fragen, als Anhänger des großen Liberalen Friedrich Naumann, seine Anschauungen zur Geltung zu bringen.
Dabei war Wilhelm Bousset nirgends von der Suche nach Konfrontation bestimmt, sondem überall von einem Streben nach Wahrhaftigkeit in der theologischen Forschung und dem unbedingten Ausdruck seiner inneren Überzeugungen. Diese teilte er mit einem Kreis junger Göttinger Gelehrter, die sich um 1890 an der theologischen Fakultät in Göttingen gefunden hatten. Zu jenem Kreis gleichgesinnter Freunde zählten neben Bousset noch unter anderem Albert Eichhorn, Hermann Gunkel, William Wrede, Johannes Weiß und Ernst Troeltsch. Sie alle waren zunächst Schüler des großen Göttinger Systematikers Albrecht Ritschl gewesen, bevor sie in Abgrenzung von ihm ihre eigenen Auffassungen entwickelt hatten.
In der Abkehr von der traditionellen Orthodoxie, die in der Bibel allein Lehrsätze zu finden suchte und an der Eingebung der Heiligen Schrift festhielt, suchten sie nach neuen Wegen zur Erforschung der Entstehung der biblischen Religion. Sie fanden diesen Weg schließlich in der Religionsgeschichte, die das Christentum nicht in orthodoxer Erstarrung, sondern wieder als lebendige Religion zu verstehen und es deshalb in allen seinen Erscheinungen wieder in den historischen Zusammenhang der antiken Glaubenswelt einzuordnen suchte.

In diesen Kreis junger Gelehrter, der später unter dem Namen "Religionsgeschichtliche Schule" innerhalb der Theologie über zwei Jahrzehnte hindurch für Furore sorgen sollte, war Wilhelm Bousset 1889 eingetreten. Er stammte ursprünglich aus einem lutherisch-orthodoxen Pfarrhaus in Lübeck und wurde hier am 3. September 1865 als Nachkomme einer weitverzweigten Danziger Hugenottenfamilie geboren. Auf Wunsch seines Vaters begann er 1884 sein Theologiestudium in Erlangen, wo er seinen lebenslangen Freund Ernst Troeltsch kennenlernte. Danach verbrachte er ein Studienjahr an der Leipziger Fakultät, deren Theologie ihn aber innerlich ebensowenig berührte wie zuvor die Erlanger. Schließlich ging er auf Betreiben seines Freundes Troeltsch und gegen den Willen seines Vaters nach Göttingen, wo er, wie sein Freund Hermann Gunkel sich erinnernd schrieb, "seine große Stunde erlebte". In Göttingen wurde durch Ritschl und die neuen Freunde sein Wissenschaftlergeist geweckt. Und nachdem er 1888 sein Abschlußexamen in Lübeck bestanden hatte, konnte er schon zwei Jahre später in Göttingen um Zulassung zur Habilitation ersuchen, die ihm trotz einiger Widerstände in der Fakultät Ende 1890 schließlich gewährt wurde.

Solche Widerstände trafen freilich damals den jungen Privatdozenten Wilhelm Bousset nicht allein. Alle seine Göttinger Freunde hatten in jenen wenigen Jahren von 1888 bis 1893 diesen Weg der Hochschulkarriere eingeschlagen, was bei einigen der Göttinger Ordinarien für erhebliche Beunruhigung gesorgt hatte. Ernst Troeltsch erinnerte sich so: "Daß die Fakultät von diesem Ansturm wenig entzückt war und einer der alten Herren von einer drohenden 'kleinen Fakultät' sprach, begriffen wir damals in unserer Naivität nicht. Namentlich den feurigen Bousset haben sie arg gequält und hingehalten. Aber schließlich zwangen wir es doch."

Während nun aber für die meisten seiner Freunde die wissenschaftliche Laufbahn durch auswärtige Professuren zügig voranging, blieb Bousset ohne Berufung in Göttingen zurück. Für einen liberal denkenden und in der Öffentlichkeit mit populären Vorträgen, schließlich gar in der Sozialpolitik auftretenden Theologen gab es damals an den preußischen Fakultäten keine Chance auf einen Lehrstuhl. Nicht zuletzt hatte ihn seine damals äußerst fortschrittliche Forderung suspekt gemacht, Frauen den Zugang zum Theologiestudium zu ermöglichen, eine Einsicht, die ihm seine Frau Marie Bousset (1867-1944) vermittelt hatte.

Wilhelm und Marie Bousset
(Wilhelm und Marie Bousset, ca. 1915)

"Bousset hat lange und schwer darunter gelitten, sich in kümmerlichsten Verhältnissen durchgekämpft. Das ist kein Ruhmestitel für die Fakultät", schrieb der Freund Ernst Troeltsch im Rückblick. Nach sechs unsicheren Jahren als Privatdozent wurde Bousset dann 1896 endlich, quasi als Hilfsbeamter der Fakultät in Göttingen, wenigstens zum außerordentlichen Professor ernannt, erstmals mit einem regelmäßigen Jahreseinkommen von 1800 Mark. Diese Stellung hatte er dann annähernd 20 Jahre inne, eher er 1916 schließlich doch noch die Berufung auf eine ordentliche Professur im hessischen Gießen erhielt. Aber bereits nach vier Jahren in der neuen Position, am 8. März 1920, starb Wilhelm Bousset mit nicht einmal 55 Jahren an einem Herzschlag.

Für Göttingen war der äußere Mißerfolg eines ihrer besten Privatdozenten freilich ein Glücksfall. Nicht zum wenigsten der Religionsgeschichtlichen Schule und hier insbesondere Wilhelm Bousset verdankte damals und verdankt noch heute die Göttinger theologische Fakultät ihr Ansehen. Schon mit seiner ersten kleinen Schrift Jesu Predigt in ihrem Gegensatz zum Judentum von 1892 sorgte Wilhelm Bousset innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft für Aufsehen. Hier schon zeichnete sich für ihn der Grundgedanke ab, der für Boussets gesamte späteren Forschungen zur Entstehung des Christentums von entscheidender Bedeutung sein sollte.

Eine Theologie des Neuen Testaments, so Bousset, läßt sich nicht - wie damals noch in der Bibelwissenschaft üblich - ohne Zwischenschritte an die des Alten Testaments anschließen. Vielmehr ist für die Entwicklung der urchristlichen Religion viel stärker, als bis dahin angenommen, der Blick auf das nachalttestamentliche Judentum zu richten. Bousset erkannte, daß die Glaubensanschauungen des Neuen Testaments wesentlich von der Gedanken- und Stimmungswelt geprägt sind, wie sie sich im nicht in der Bibel vertretenen Judentums der beiden vor- und nachchristlichen Jahrhunderte entwickelt hat. Vor allem die jüdischen Vorstellungen von der Apokalypse sind in die Evangelien eingeflossen und bilden den steten Hintergrund der Verkündigung Jesu.

Martin Schröder, 1992   


Primärliteratur :

Jesu Predigt in ihrem Gegensatz zum Judentum. Ein religionsgeschichtlicher Vergleich, 1892; Die Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter, 1903 (3. Aufl. 1926 hg. v. H. Greßmann); Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenäus, FRLANT 21, 1913 (2. Aufl. 1921 hg. v. G. Krüger).

Sekundärliteratur :

Gunkel, H.: Wilhelm Bousset (Gedächtnisrede). In: EvFr 42 (1920), S.141-62; Lüdemann, G. und M. Schröder: Die Religionsgeschichtliche Schule in Göttingen. Eine Dokumentation, V. Lebensläufe. Wilhelm Bousset, 1987, S.55-63; Verheule, A. F.: Wilhelm Bousset. Leben und Werk. Ein theologiegeschichtlicher Versuch, 1973 (mit Bibliographie).