Der Absolutheitsanspruch des Christentums(=> Auszug aus: "Die Göttinger Wurzeln der 'Religionsgeschichtlichen Schule", STRS 1) Bald nach ihrer Habilitation hatten die meisten Mitglieder der "kleinen Fakultät" Göttingen verlassen: Ernst Troeltsch wurde 1892 nach Bonn berufen, William Wrede 1893 nach Breslau. Heinrich Hackmann ging 1894 als Pfarrer nach Schanghai, Johannes Weiß erhielt 1895 ein Ordinariat in Marburg. Alfred Rahlfs verblieb in Göttingen, widmete sich jedoch bald ausschließlich der Weiterführung der Septuaginta-Studien seines verstorbenen Lehrers de Lagarde. Als einziges aktives Mitglied der "kleinen Fakultät" wirkte Wilhelm Bousset weiter in Göttingen und rückte nach über fünf Jahren als Privatdozent in der Nachfolger von Johannes Weiß zum Extraordinarius auf. Seine eigene Forschungsarbeit setzte er auch nach dem Weggang der Freunde aus der "kleinen Göttinger Fakultät" unvermindert fort. Mitte der 90er Jahre war bei ihm die Vorstellung vom Christentum als "synkretistischer Religion" voll entwickelt. Der Vergleich verschiedener Religionen miteinander war zu einem Mittel geworden, die Entstehung des Christentums durch Untersuchung der in ihm nachweisbaren äußeren Einflüsse zu erklären. Das Christentum wurde von Bousset dabei als die höchste und vollkommenste Entwicklungsstufe aller bekannten Religionen angesehen. Er erkannte die Konsequenzen dieser Schlußfolgerung genau:
Für mich wird Paulus mehr u. mehr der Gipfelpunkt der Religionsgeschichte, [...] Denn er ist wie kein andrer der Prediger der Erlösung. Der Gedanke der Erlösung aber ist doch recht eigentlich das Centrum der Religionsgeschichte, und der Kernpunkt aller Religion. Alle Religion ist ein Hinausahnen und Streben des Menschen aus seiner Welt, u. Sehnsucht nach einer andern Welt voll höherer Mächte u. besserer Güter, mag nun 'diese' den Menschen bekannte u. vertraute Welt eine Hand breit Erde sein und die wenigen Geräte mit denen er sie bearbeitet, oder der Blick der Menschen sich erweitert haben über die Sternenwelt. Mag 'jene' Welt beginnen mit den Bergen und Wäldern in denen der Mensch Geister hausen sieht, oder mit den leuchtenden strahlenden, segnenden Gestirnen, oder mag er sie suchen u. glauben jenseits von Raum u. Zeit. [...] Und so ist in der That Römer 8 die Krone der Religionsgeschichte."
Bousset weist hier auf eine oben bereits erwähnte Konsequenz der religionsgeschichtlichen (hier wohl besser: religionsvergleichenden) Forschungsmethode hin: Die Erkenntnis einer Absorbierung "fremdreligiöser" Elemente in der Entwicklung zum und durch das frühe Christentum sowie der Geschichtlichkeit auch der christlichen Religion mußte in der letzten Konsequenz den Absolutheitsanspruch des Christentums gegenüber anderen Religionen gefährden. Für Bousset blieb das Christentum jedoch trotz seines auf die Religion übertragenen Evolutionsgedankens die nicht überbietbar höchstentwickelte Form von Religion: "Zwingt uns die alles in Fluß setzende Geschichtsforschung nicht zu der Anerkennung, daß auch die christliche Religion nur eine vorübergehende überbietbare Form der Religion sei [...]? Ich glaube nicht" [Wilhelm Bousset, Das Wesen der Religion dargestellt an ihrer Geschichte, Halle 1903, S. 260; Hervorhebung im Original]. In diesem Punkt unterscheidet sich Bousset von seinem Freund Troeltsch, der zwar die praktische, aber keine theoretische Absolutheit des Christentums gelten läßt, da dem Christentum aufgrund der Entwicklung von Geschichte (und darin sei die Religion immer eingeschlossen) nur die relativ höchste Stellung zukommen kann: "Eben deshalb ist auch mit keiner strengen Sicherheit zu beweisen, daß es der letzte Höhepunkt bleiben müsse und daß jede Überbietung ausgeschlossen sei" [Ernst Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums, Tübingen/Leipzig 1902, S. 94; Hervorhebung im Original]. Auch das Argument einer göttlichen Offenbarung im Christentum, die es über alle anderen Religionen erhöbe, ließen die "Religionsgeschichtler" in dieser Form nicht gelten: "Die religionsgeschichtliche Richtung behauptet mit aller Energie eine lebendige und wirkliche Offenbarung Gottes. Was wir, Tröltsch [sic!] und jeder, der sich in unserem Kreise zu dieser Frage geäußert, verwerfen, und worauf unsere Gegner allerdings alles Gewicht legen, ist die Annahme eines absoluten Unterschiedes zwischen der spezifischen Offenbarung Gottes in Christo [...] und der allgemeinen göttlichen Offenbarung in den Religionen der Völker und die Behauptung, daß erstere von letzterer nicht blos graduell sondern toto genere verschieden sei" [Wilhelm Bousset, Die Mission und die sogenannte Religionsgeschichtliche Schule, Göttingen 1907, S. 7; Hervorhebung im Original. Vgl. zu diesen Fragestellungen auch Gunnar Sinn, Christologie und Existenz, TANZ 4, Tübingen 1992, S. 16f., der ebd. Anm. 104 darauf hinweist, daß schon Johannes Weiß in seiner 7. Promotionsthese von 1888 bemerkt: "Der Satz Kählers [...]: 'Alles heidnische, d.h. nicht christliche religiöse Leben entbehrt der Offenbarung' verstösst gegen die christliche Weltanschauung" (abgedruckt in: Horst Renz/Friedrich Wilhelm Graf [Hrsg.], Troeltsch-Studien I, Gütersloh 1982, S. 296); vgl. auch das zum Bruch mit den Ritschlianern Ausgeführte.]
Der Gedanke, daß die verschiedenen Religionen der Welt im Grunde nur unterschiedliche Entwicklungsstufen desselben menschlichen Erfahrens darstellen, ist bei allem historischen Forschungsinteresse der "Religionsgeschichtler" nur unter Berücksichtigung des herrschenden Zeitgeistes vollständig zu begreifen: Die Darwin'sche Entwicklungslehre mit ihrer Behauptung eines gleichzeitigen Nebeneinanders von in unterschiedlichen Entwicklungsstufen vorhandenen, ansonsten aber verwandten Phänomenen (Affe - Menschenaffe - Mensch) wird auf die gleichzeitige Existenz verschiedener Religionsstufen projiziert (primitive Religion - Buchreligion - Christentum). Hier muß die "Religionsgeschichtliche Schule" ganz als ein Produkt ihrer Zeit verstanden werden. Dies sah auch Alfred Jeremias ähnlich, der einen solchen Ansatz ablehnt:
Naturwissenschaftliche Erkenntnisse schienen mit den bestehenden Überzeugungen des Christentums unvereinbar zu sein. Im allgemeinen
Schon seit den Jahren des "Eichhorn-Kreises", aber besonders jetzt in einer Zeit, in der die radikale historische Methode der "kleinen Göttinger Fakultät" das überkommene Bild des Christentums in Frage stellte, war die in der Theologie der Zeit oft geforderte Entscheidung eines "entweder - oder" von naturwissenschaftlichem bzw. religiösem Weltbild eine durchaus grundsätzliche. Die Religionsgeschichtler waren in dieser Frage durch ihre Lehrer vorgeprägt. Eingangs wurde Albert Eichhorns Schätzung von Hermann Lotze erwähnt. Eichhorn hatte gesagt: "Seine Weltanschauung ist die meinige" [Lebenslauf Eichhorns. Abgedruckt bei Ernst Barnikol, Albert Eichhorn (1856-1926). Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1960, S. 141-152; hier S. 141.] (s. oben S. 36). Und Lotzes Lebenswerk ist "als ein großangelegter Syntheseversuch von moderner Naturwissenschaft und philosophischer Forschung mit einer auf der Höhe der Zeit stehenden Religiosität zu charakterisieren" [Lüdemann/Schröder, S. 36.].
In Göttingen beschäftigte sich der seit 1895 als Stiftsinspektor tätige Rudolf Otto, der auch schon 1889 und 1891/92 hier studierte und mit der "kleinen Fakultät" seither bekannt war, mit diesem Fragenkomplex.
Otto war - wie sein Freund Heinrich Hackmann - von fernen Ländern und fremden Kulturen fasziniert. Er unternahm Reisen nach Griechenland, Palästina, Ägypten, aber auch nach China und Japan. Bousset und Otto waren bald eng befreundet. Ihre Ansichten über das Christentum als synkretistische Religion, aber auch über den Urgrund aller Religion(en) in einem gemeinsamen Kern und dem Christentum als seiner höchsten Entwicklungsstufe, führte sie zusammen. Aus einer seiner ersten Vorlesungen entstand später Ottos gleichnamiges Buch "Naturalistische und religiöse Weltansicht", in dem er ein Miteinander beider "Weltansichten" zu erweisen suchte. Denn "in Wahrheit sind die reinen Ergebnisse der Forschung weder heute noch früher 'aggressiv', sondern an und für sich gegen religiöse sogut wie gegen jede idealistische Betrachtung in der Tat ganz neutral und sie überlassen es sozusagen den höheren Betrachtungsweisen, wie diese den Stoff in ihre Fächer und unter ihre Gesichtspunkte aufnehmen wollen" [Rudolf Otto, Naturalistische und religiöse Weltansicht, Tübingen 1904, S. 4].
Für Ottos theologische Entwicklung waren die Freundschaft und der Gedankenaustausch mit Bousset immens wichtig. So weist Verheule mit Recht darauf hin, daß Bousset den Anschauungen Ottos über das Heilige, die dieser später in seinem gleichnamigen Hauptwerk entfaltete [Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917], vorgearbeitet habe:
Alf Özen, 1996 |
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